Eine Frau, ein Schwert, eine Rache
Trickfilm für Erwachsene: Die Serie „Blue Eye Samurai“ ist ein Meisterwerk
Viel wird aufgeboten, sie aufzuhalten: Mizu (gesprochen im Original von Maya Erskine) setzt alles daran, ihre Mutter zu rächen. Szene aus der ersten Staffel von „Blue Eye Samurai“ – zu sehen bei Netflix.
Quelle: COURTESY OF NETFLIX
Um zu überleben und einen Racheschwur zu erfüllen, lebt eine Frau im alten Japan als Mann. Die Animationsserie „Blue Eye Samurai“ erzählt ein komplexes Abenteuer über Patriarchat und Selbstermächtigung – in atemberaubenden Bildern.
Mizu hat blaue Augen, was ihn zum „Monster“ für die Kinder im Städtchen macht. Sie treiben ihn auf die Klippe zu, und es sieht aus, als wollten sie den Jungen tatsächlich hinab ins Meer stürzen. Im Japan des 17. Jahrhunderts, der frühen Edo-Zeit (der alte Name von Tokio), duldet man, so erzählt es uns die US-Animationsserie „Blue Eye Samurai“, keine Weißen mehr im Land. Die Abschließungspolitik des Tokugawo-Shogunats machte Kinder mit einem europäischen Elternteil vogelfrei.
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Niemand würde das Kind also vermissen, das seit der Ermordung seiner Mutter durch die Straßen streift. Errettet wird Mizu durch einen Meteoriten, der – Zufall? Schicksal? – an der Klippe einschlägt und den er gemeinsam mit einem alten, blinden Schwertmeister birgt. Ein besonderes Schwert wird daraus geschmiedet, eins, dessen Klinge blau schimmert.
Der Held, der eine Heldin ist, strebt nach Rache
Ein Schwert zu beherrschen, danach strebt Mizu (gesprochen von Maya Erskine), denn das schmächtige Mädchen, dass sich als Junge ausgibt, hat im Namen seiner toten Mutter Rache an seinen vier potenziellen weißen Vätern geschworen. Mizu wird zunächst Gehilfin des Schmieds und nutzt jede freie Sekunde, sich im Tanz mit der Waffe zu üben.
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Bis sie so gut ist, dass sie jede Bewegung des Gegners vorausahnt und jeden Hieb zu parieren weiß. Dann schreitet Mizu in einem blauen Mäntelchen, das Gesicht von einem flachen Samuraihut verschattet und die blauen Augen hinter orangefarbenen Brillengläsern versteckend, als Mann in die Welt hinaus. Um künftighin keinen Kampf zu scheuen und sei es gegen hundert Mann, um zu siegen, zu scheitern, neu zu beginnen und erneut zurückgeworfen zu werden, ohne die Mission je zu verwerfen.
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Crossdressing als einzige Möglichkeit der Selbstermächtigung
Crossdressing ist ein uraltes Motiv im Geschichtenerzählen. Während die Verkleidung eines Mannes als Frau in der Literatur oft dazu missbraucht wird, sich Zutritt zu Frauenrefugien zu verschaffen, um sexuelle Gewalt auszuüben, tragen Frauen Männerkleidung, um die sozialen und politischen Beschränkungen ihres Geschlechts durch patriarchalische Strukturen zu überwinden, aus Rollenzuweisungen auszubrechen und machtvoll und selbstbestimmt zu leben.
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Schon in Aristophanes‘ Komödie „Frauen in der Volksversammlung“ aus dem frühen vierten Jahrhundert vor Christus übernehmen verkleidete Frauen die Macht in Athen. Hua Mulan zieht in der chinesischen Ballade „Mulan“ für ihren Vater in den Krieg. Und Bróka-Audr, die in der altisländischen „Laxdaela saga“ Männerwams anzieht, um Rache zu üben, dient als eines der Vorbilder für Éowyn in Tolkiens „Herr der Ringe“, die unter dem Namen Dernhelm in den Krieg aufbricht. Mizu ist eine Mahnung an Geschlechtergerechtigkeit in der Form eines historischen Abenteuers.
In den Schuhen von Tarantino, Kurosawa und Sergio Leone
Das – ein abgenutztes Wort in Reviews, oft herangezogen, sobald ein Film drei mehr als durchschnittliche Actionszenen enthält – mit atemberaubend nur unzureichend beschrieben ist für den hier wirbelnden raffiniert geschnittenen Taifun der Bilder.
Die Schwertszenen, etwa der Kampf Mizus gegen vier „die Reißzähne“ genannte Assassinen, können mit denen der besten Kung-Fu-Kinofilme mithalten, die furiose (und explizite, blutige) Inszenierung erinnert an den ersten Teil von Quentin Tarantinos „Kill Bill“. Und die Tragik an Akira Kurosawas „Sieben Samurai“. Dies ist – auch die erotischen Szenen weisen es aus – Animation für Erwachsene.
Japans gefürchetste Kämpfer: Die vier "Reißzähne" sind unterwegs, um Mizu auszuschalten.
Quelle: COURTESY OF NETFLIX
Man ist jedenfalls bereits nach zehn Minuten unrettbar an die gemäldeartige Ästhetik dieser Serie verloren, die weit weg ist von Anime. Autor Michael Green („Logan“, „Alien: Covenant“, „Blade Runner 2049″) und seine Ehefrau Amber Noizumi, zu deren Vorbildern für „Blue Eye Samurai“ auch Sergio Leones Edelwestern „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) zählte, schaffen etwa ganz Unglaubliches: Schon bald merkt man nicht mehr, dass man in diesen opulenten Settings Trickfilmfiguren folgt. Die gezeichnete Welt und ihre gezeichneten Bewohner fühlen sich echt und lebendig an.
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Die Charaktere der Serie sind hervorragend geschrieben
Das liegt auch an den Twists des Plots, der Tiefe des Dramas und der Mehrdimensionalität der hervorragend geschriebenen Charaktere. Es wird noch die Geschichte des Schwertkämpfers Taigen (Darren Barnet) erzählt, der die Fürstentochter Akemi heiraten möchte, sich aber durch ein verlorenes Gefecht gegen Mizu entehrt fühlt und seinerseits Rache schwört. Und von Akemi (Brenda Song), die sich nicht an den zweiten Sohn des Shogun verheiraten lässt, aus dem Palast ausreißt und in einem Bordell landet.
Sowie von Ringo (Masi Oka), einem ohne Hände geborenen Küchengehilfen, der sich selbst durch Todesandrohung nicht davon abbringen lässt, Mizus Sidekick auf dessen Quest zu werden. Und von dem sad*stischen Schurken Fowler (erinnert an Marlon Brando, wird gesprochen von Kenneth Branagh, für den Green die drei Skripts zu seinen Agatha-Christie-Verfilmungen verfasste), der die Machtverhältnisse im Land der Schwerter mit westlichen Schusswaffen „umgestalten“ möchte und eins der vier „Ziele“ Mizus ist.
Wenn Regisseurin Jane Wu (Storyboard-Arbeit unter anderem bei „Game of Thrones“) ihre Cliffhanger setzt, wird daraus eine Nachtsitzung, Binge-Time.
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Historisch ist sehr viel nicht allzu akkurat: Die „Abschließung“ Japans richtete sich damals vor allem gegen das Christentum, gegen spanische und portugiesische Missionsbestrebungen, Angehörigen der Niederländischen Ostindien-Kompanie aber, die nichts mit Missionierung im Sinn hatten, war das Betreten japanischen Bodens durchaus erlaubt. Schusswaffen waren – anders als hier gezeigt – in Japan schon seit dem 16. Jahrhundert wohlbekannt und wurden dort auch hergestellt. Und der verheerende Mereiki-Brand von 1657, bei dem rund 100.000 Menschen starben, bekommt hier eine neue, zur Handlung passende Ursache.
Das eigene Baby animierte Green und Noizumi zur Geschichte
Die Geschichte vom „blauäugigen Samurai“ fiel dem Ehepaar Green/Noizumi ein, nachdem es von den blauen Augen des eigenen Babys verzaubert worden war. Das Resultat ist meisterlich. Eine Serie über Exklusion und Verfolgung, über Patriarchat und weibliche Diskriminierung und darüber, wie irrationaler Menschenhass die gehassten Menschen formt, deformiert, neuen Hass hervorruft. Die Frauenfigur(en) hier wird man nicht so schnell vergessen.
„Blue Eye Samurai“, Animationsserie, erste Staffel, acht Episoden, von Michael Green und Amber Noizumi, Regie: Jane Wu, mit den Stimmen von – im Original – Maya Erskine, Masi Oka, Darren Barnet, Brenda Song, Kenneth Branagh, Randall Park, George Takei, Cary-Hiroyuki Tagawa (streambar bei Netflix)