VoD: Sie ist steif, er ungelenk. Nicolette Krebitz entwirft mit A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe einen komischen Liebesreigen voller großer Kinomomente.
In der Liebe begegnen sich oft erst die Projektionen und Klischees, die zwei voneinander haben. Er ist groß, viel größer als sie, eine Lederjacke trägt er, und einen verschreckten Blick. Die Schauspielerin Anna (Sophie Rois) kann sich ganz genau an ihn erinnern und Nicolette Krebitz zeigt es uns. Sie springt in der Zeit, in die Erinnerung und in die Vorahnung, in den Augenblick und in die Falle. Krebitz, die als Regisseurin für so unterschiedliche Filme wie Wild (2016) und Das Herz ist ein dunkler Wald (2007) bekannt ist, bringt in ihrem neuesten Film das Melodram und die Komödie zusammen.
Zurückhaltung und reines Kino
Die Fallen, in die sie ihre Figuren tappen lässt, sind die der großen Romantik. Krebitz kann sie auf fantastische Weise heraufbeschwören, weil sie um ihre mediale Vermittlung weiß. Sie ernst zu nehmen heißt, sie auszunutzen. Und so bringt sie ihre Schauspieler*innen zu etwas ganz Ungewöhnlichem im deutschen Kino: eine Zurückhaltung auszustrahlen, die nicht aufs Authentische verweist. „Unwahrscheinlich, aber möglich“, nennt Alain Guiraudie (Nobody’s Hero im Berlinale-Panorama) sein Kino, das gilt für Krebitz ganz genauso.
Die Figuren in A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe sind reines Kino. Milan Herms spielt Adrian, der gleich zweifach zum ersten Mal in Annas Leben tritt. Erst als er ihr auf offener Straße die Handtasche entreißt und dann, wenig später, als er ihr von einem befreundeten Arzt zum Sprechtraining aufs Auge gedrückt wird. Sie versucht sich gegen ihr Glück zu wehren, aber es ist aussichtslos.
Dezidiert feministisch ist der Blick, die Abhängigkeiten der beiden Liebenden, die das Begehren neu sortieren könnten, geraten nie zum Nachteil der Frau. In der verschachtelten Erzählung entlarvt Krebitz nebenbei sogar, wie der Mann zum Objekt degradiert zu werden droht, weil Feminismus auch bedeutet, eine Objektivierung aller Geschlechter vermeiden zu wollen.
Abziehbilder, die Reibung verheißen
Die zierliche Schauspielerin und der unreife Ganove: Klar spielt A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe mit diesen Abziehbildern, weil Stereotype Konfrontation und Reibung verheißen. Sie hat ihre Karriere bereits hinter sich, er ist noch minderjährig. Je mehr sich die beiden aber füreinander öffnen, desto mehr treten die Klischees in den Hintergrund. Er ist gar kein Ganove, sondern ein junger Mann, der im Theaterstück an der Schule wichtige Textpassagen vorzutragen hat, den Mund aber nicht aufkriegt. Dass sie eine ziemlich coole Socke ist, die aus freien Stücken entscheidet, welche Distanz sie zu wem hält, und gerade nicht die verstockte Alte mit eingerostetem Herz, die sie in anderen Filmen gewesen wäre, ist eine große Erleichterung.
Überhaupt: Das Duo Sophie Rois und Milan Herms ist eine gemeinsame Entdeckung. Hat man Rois überhaupt schon einmal so in sich gekehrt, so unterschwellig komisch, so voller kontrollierter Energie im Kino gesehen? Herms bietet in seiner ersten Kinorolle auch deswegen eine großartige Projektionsfläche, weil er wie ein frisch geschlüpftes Küken noch nach den richtigen Bewegungen und Blicken zu suchen scheint. Dass sein Adrian sich weinend auf die Straße unter dem Fenster der Angebeteten legt, ja, das passt.
Liebesprojektionen übernehmen
Es passt, weil Plausibilitätsprüfungen ohnehin unnötig sind, wenn Liebesprojektionen übernehmen. Reinhold Vorschneiders Kamera legt sich mit den Protagonist*innen auf den Boden, erschließt die Räume, rennt hinter dem Dieb her, verbindet in geschmeidigen Zugfahrten weit entlegene Ecken von Europa miteinander, markiert das Westberliner Milieu der viel zu großen Altbauwohnungen für einsame Menschen und entführt uns zu einem kurzen Freiheitsrausch an die Côte d’Azur.
Sophie Rois spricht aus dem Off, als sei sie eine unbeteiligte Dritte. Sie bringt Fäden zusammen, bekräftigt, was in den Bildern zu sehen, in den Montagen zu spüren ist. Das wäre gar nicht nötig, aber es ist ohnehin mehr ein Spiel mit den Ebenen, die Krebitz wechselt, wie es ihr beliebt. Was in einem Augenblick getragen, ja, beinahe steif erscheinen mag, im nächsten ist es schon gebrochen. Weder buchstabiert sie das Alphabet zu Ende, noch bringt sie alle Witze auf den Punkt, aber sie greift ein, wenn man anfängt, sich einzurichten in dieser Welt. Vertrauen darf man nicht den Figuren, vertrauen muss man der Filmemacherin, denn dieses Kino ist, wann hat man das zuletzt schon gesagt: larger than life.
Der Film steht bis zum 20.02.2024 in der Arte-Mediathek.